Erbrecht: Sittenwidrigkeit eines sog. „Behindertentestaments“

Gegenstand zahlreicher Entscheidungen aus dem Erbrecht in der obergerichtlichen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte und des BGH ist die Frage der Sittenwidrigkeit eines sog. „Behindertentestaments“. Bei diesem Testament beschränkt der Erblasser sein behindertes Kind für den Erbfall so, dass dieser lediglich die Pflichtteilsquote oder knapp darüber erhält und dessen Betreuer somit nicht ausschlagen kann. Da der Sozialhilfeträger ein Interesse an der Unwirksamkeit eines solchen Testaments hat, da dann die gesetzliche Erbfolge mit einer deutlich höheren Erbquote eintreten würde, war in der Vergangenheit des öfteren die Anfechtung eines solchen Testaments Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen. Der BGH hat bislang die Frage, ob ein solches „Behindertentestament“ für den Fall sittenwidrig und damit unwirksam ist, wenn der Erblasser ein größeres Vermögen besessen hatte, offen gelassen. Das OLG Hamm hat sich nun mit dieser näher beschäftigt.

Wie hat das OLG Hamm entschieden?

Das OLG Hamm hat in seinem Urteil (Urt. v. 27.10.2016 – 10 U 13/16) entschieden, dass ein sog. „Behindertentestament“ auch dann nicht sittenwidrig und damit unwirksam ist, wenn der Erblasser ein erhebliches Vermögen hatte. Der Entscheidung lag (in verkürzter Form) folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Erblasserin und ihr Ehemann errichteten ein gemeinschaftliches Testament, in dem sie regelten, dass der überlebende Ehegatte zu 1/4 Erbe werde sowie das behinderte von insgesamt 3 Kindern Erbe in Höhe des 1,1-fachen seines gesetzlichen Pflichtteilsanspruchs. Ferner sollten die beiden anderen Kinder Erben zu je gleichen Teilen werden. Die Eheleute setzen allerdings das behinderte Kind als nicht befreiten Vorerben ein. Nacherbe sollte der jeweils überlebende Ehegatte werden. als Ersatznacherben wurden die beiden anderen Kinder eingesetzt. Zudem wurde bezüglich des Erbteils des behinderten Kindes eine sog. Dauertestamentsvollstreckung angeordnet. Das Vermögen der Erblasserin umfasste einen Wert in Höhe von über 7 Millionen Euro. Der Sozialhilfeträger hatte etwaig bestehende Pflichtteilsansprüche und Pflichtteilsergänzungsansprüche auf sich nach § 93 Abs. 1 S. 4 SGB XII übergeleitet. Im Klageprozess versuchte der Sozialhilfeträger nun, das Testament als sittenwidrig und damit unwirksam erklären zu lassen.

Dieser Auffassung ist das OLG Hamm nicht gefolgt. Dem Erblasser stehe es kraft seiner versassungsrechtlich in Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG verankerten Testierfreiheit zu, sein behindertes Kind gegenüber anderen Erbberechtigten bei der Erbfolge zu benachteiligen. Die im Rahmen der Erbrechtsgarantie gewährleistete Privatautonomie finde ihre Schranken lediglich im sozialstaatlich und durch Art. 6 I GG legitimierten Pflichtteilsrecht. Die daneben geltende Schranke des § 138 I BGB könne eine erbrechtliche Zurücksetzung nächster Angehöriger unterhalb des Pflichtteilsrechts nur in besonders schwerwiegenden Ausnahmefällen abwehren. Ein solcher Ausnahmefall sei vorliegend jedoch nicht gegeben.

Auch die Anordnung der Vor- und Nacherbschaft verstoße nicht gegen die Vorschrift des § 138 Abs. 1 BGB. Dies gelte auch für den vorliegenden Fall, wenn es sich um erhebliches Vermögen des Erblassers handele. Dabei bezieht sich das OLG Hamm auf den BGH. Dazu führt es wörtlich wie folgt aus: „Der Bundesgerichtshof hat dies damit begründet, dass dem Sozialhilferecht weder ein gesetzliches Verbot der vorliegenden Testamentsgestaltung noch ein Schutzzweck des Inhalts entnommen werden kann, dass dem Träger der Sozialhilfe der Zugriff auf das Vermögen der Eltern eines Hilfeempfängers spätestens bei dessen Tod gesichert werden müsse. Auch lasse sich die Nichtigkeit der Nacherbfolge nicht auf den Grundsatz des Nachranges der Sozialhilfe stützen, weil dieser Grundsatz vom Gesetzgeber bei Leistungen an einen erwachsenen Behinderten in erheblichen Maße selbst durchbrochen werde. Darüber hinaus berücksichtige das Gesetz ein dem Subsidiaritätsgrundsatz gegenläufiges Prinzip des Familienlastenausgleichs. Danach gebiete das Bundessozialhilfegesetz keinerlei Grundlage dafür, dass ein Erblasser aus Rücksicht auf die Belange der Allgemeinheit seinem unterhaltsberechtigten, behinderten Kind jedenfalls bei größerem Vermögen entweder einen über den Pflichtteil hinaus gehenden Erbteil hinterlassen müsse, um den Träger der Sozialhilfe einen gewissen Kostenersatz zu ermöglichen, oder zumindest eine staatlich anerkannte und geförderte Behindertenorganisation als Nacherben einsetzen müsse, damit der Nachlass auf diesem Wege zur Entlastung der öffentlichen Hand beitrage. Es fehle zudem an einer allgemeinen Rechtsüberzeugung, dass Eltern einem behinderten Kind jedenfalls ab einer gewissen Größe ihres Vermögens einen über den Pflichtteil hinausgehenden Erbteil hinterlassen müssten, damit es nicht ausschließlich der Allgemeinheit zur Last fällt (so BGH, Urt. v. 20.10.1993, Juris-Rz. 17 ff und 22 ff).“ (Zitat Ende)

Nach der Auffassung des OLG lasse sich die Sittenwidrigkeit des Testaments auch nicht mit mit dem Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe begründen. Das sozialrechtliche Subsidiaritätsprinzip sei  im Sozialhilferecht selbst in erheblichem Maße durchbrochen; es sei für die unterschiedlichen Leistungsarten verschieden ausgestaltet. Das Prinzip betrifft lediglich das Verhältnis des  Sozialhilfeempfängers zum Sozialhilfeträger.

Anmerkung: Dieser Beitrag stellt keine Rechtsberatung dar und ersetzt auch keine individuelle Beratung durch einen Notar oder Anwalt im jeweiligen Einzelfall!